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Das Berliner Bordell, zu dem Reichen ihn an diesem Abend brachte, entsprach voll und ganz seiner Beschreibung und übertraf Rios Erwartungen sogar noch um einiges. Seit ein paar Jahren war die Prostitution hier legal, und was hinreißende, willige Frauen anging, beschäftigte der Sexclub Aphrodite offensichtlich nur handverlesene Extraklasse ...

Drei der schönsten Exemplare des Clubs, nackt bis auf ihre winzigen Tangas, tanzten langsam und umschlungen vor dem Tisch, an dem Rio und sein Gastgeber mit Helene saßen, der atemberaubenden Eigentümerin des Etablissements. Mit ihrem langen dunklen Haar, dem makellosen Gesicht und den üppigen Rundungen stand Helene der Schar betörender junger Frauen, die für sie arbeiteten, in nichts nach.

Aber bei all ihrem offenen Sexappeal war sie doch eine knallharte Geschäftsfrau und genoss es sichtlich, alle Fäden in der Hand zu haben.

Reichen wiederum schien es offenbar zu genießen, Helene die Initiative zu überlassen. Er saß neben ihr auf der sichelförmig geschwungenen Samtcouch, Rio gegenüber, in die quastengeschmückten Sitzpolster gelehnt. Einer seiner Füße ruhte auf dem niedrigen runden Cocktailtischchen vor ihm, er hatte die Schenkel weit gespreizt, um Helenes wandernden Händen freie Bahn für all das zu geben, dem sie sich zuwenden wollte.

Momentan schien sie darauf konzentriert, ihn scharf zu machen, indem sie ihre scharlachrot lackierten Fingernägel die Innennaht seiner maßgeschneiderten Hose hinauf- und hinunterwandern ließ. Dabei führte sie auf ihrem Handy ein halblautes Geschäftsgespräch auf Deutsch.

Reichen sah Rio über die kurze Entfernung an und wies mit dem Kinn auf die drei Frauen, die sich nur eine Armeslänge entfernt streichelten und aneinander rieben.

„Bedienen Sie sich, mein Freund - eine oder alle, ganz wie Sie möchten. Sie stehen zu Ihrer persönlichen Verfügung, ein Geschenk des Hauses. Helene hat das veranlasst, sobald ich ihr sagte, dass ich Sie heute mitbringe.“

Helene schenkte Rio ein katzenhaftes Lächeln, während sie sich weiter ihren Geschäften widmete, wie eine Tigerin, die sie zweifellos auch war. Als sie ihrem Gesprächspartner eine Reihe kurzer Anordnungen erteilte, hob Reichen ihr dunkles Haar von ihrer Schulter und strich ihr mit den Fingerspitzen sanft über den Hals.

Sie waren ein seltsames Paar. Obwohl sie sich häufig sahen, war ihre Beziehung zwanglos, genauso wie Reichen es wollte.

Stammesvampire interessierten sich selten länger für Menschenfrauen, selbst wenn ihr Interesse in erster Linie sexuell war. Das Risiko, die Existenz des Stammes vor den Menschen zu enthüllen, wurde im Allgemeinen als zu hoch betrachtet, als dass ein Vampir es wagen konnte, eine langfristige Beziehung einzugehen. Und immer bestand die Gefahr, dass ein Mensch den Rogues in die Hände fiel oder, noch schlimmer, von einem der mächtigeren, aber kriminellen Angehörigen des Stammes zum Lakaien gemacht wurde.

Helene war keine Stammesgefährtin, aber sie war Reichens Verbündete und besaß sein volles Vertrauen. Sie wusste, was er war - und auch, was Rio und der Rest des Stammes waren -, und wahrte das Geheimnis, als wäre es ihr eigenes. Sie hatte sich Reichen gegenüber als vertrauenswürdig und loyal erwiesen, was Rio von der Stammesgefährtin, mit der er sich vor so vielen Jahren verbunden hatte, nicht gerade hatte behaupten können.

Er riss seinen Blick von dem Paar los und starrte auf den Hauptraum des Clubs hinaus. Getönte Glaswände trennten die dämmerig erleuchtete VIP-Lounge, in der sie saßen, völlig vom Hauptraum und ermöglichten einen 360-Grad-Panoramablick auf die Aktivitäten, die dort direkt vor seinen Augen stattfanden. Da wurde kopuliert in jeder nur erdenklichen Weise und Kombination, soweit Rio nur blicken konnte. Noch näher waren die drei jungen Schönen, die offenbar zu seinem persönlichen Vergnügen bereitstanden.

„Nicht übel, was? Sie können sie ruhig anfassen.“

Reichen winkte ihnen, und die drei Prostituierten marschierten in gewollt aufreizender Pose vor Rios Tischseite auf. Nackte Brüste wippten mit künstlicher Festigkeit, als die Mädchen sich mit den Händen über den eigenen Körper und die der anderen strichen, eine Show, die sie sicher schon zum tausendsten Mal machten. Eine von ihnen schlenderte heran und setzte sich auf seine Knie, ihre braun gebrannten Hüften kreisten im Takt der wummernden Bässe und der rauchigen Stimme, die aus dem Soundsystem im Hintergrund drangen.

Ihre beiden Freundinnen stellten sich rechts und links dazu und streichelten ihren Körper, während sie ihre kleine Tanznummer auf seinem Schoß abzog. Der Satinfetzen ihres Tangas, der ihr Geschlecht bedeckte, wiegte sich nur wenige Zentimeter vor Rios Mund.

Er fühlte sich seltsam abwesend. Zwar würde er es geschehen lassen, aber nichts von dem, was ihm da geboten wurde, interessierte ihn wirklich. Er würde die jungen Frauen benutzen, genauso wie sie ihn benutzen wollten.

Auf der anderen Tischseite beendete Helene ihr Telefongespräch.

Als sie das flache Gerät zuklappte, stand Reichen auf und hielt ihr die Hand hin. Sie glitt von ihrem Samtpolster und unter den schützenden Arm ihres vampirischen Geliebten.

„Sie werden alles tun, was Sie wünschen“, sagte Reichen.

Als Rio fragend zu ihm aufsah, deutete der andere Stammesvampir seinen Blick ohne Zögern oder Irrtum. Reichens Augen glitten auf Rios grellbunte Glyphen, er gab diskret zu erkennen, dass er um Rios wachsenden Bluthunger wusste. „Die Glaswände sind einfach verspiegelt, hier ist man ganz unter sich. Was immer es ist, nach dem es Sie gelüstet, von außen wird niemand sehen, was hier drinnen vor sich geht. Bleiben Sie, solange Sie wollen. Mein Fahrer wird Sie zurück zum Anwesen bringen, wann immer Sie so weit sind.“ Er lächelte und ließ dabei die Spitzen seiner Fangzähne aufblitzen, die sich gerade ausfuhren. „Bei mir wird es heute wohl etwas später.“

Rio sah den beiden nach, wie sie zum Aufzug hinüber schlenderten, der sich in der Mitte der VIP-Lounge befand. Sie fielen schon übereinander her, bevor sich die Tür ganz geschlossen hatte und der Fahrstuhl seinen Aufstieg zu Helenes Privaträumen und Büros im obersten Stockwerk des Gebäudes begann.

Zwei Hände begannen Rios schwarzes Hemd aufzuknöpfen.

„Gefällt dir, wie ich tanze?“, fragte die Frau, die sich zwischen seinen Beinen wand.

Er antwortete nicht. Sie hatten kein sonderliches Interesse an Konversation, aber das hatte er ja auch nicht. Rio sah auf in die drei schönen, geschminkten Gesichter. Sie lächelten, machten Schmollmündchen und arrangierten ihre glänzenden Lippen in sinnlichen Posen, die aufreizend wirken sollten ... aber nicht ein einziges Augenpaar wollte ihm auch nur einen Moment länger als nötig ins Gesicht sehen.

Natürlich, dachte er und grinste zynisch. Keine von ihnen wollte sich seine Narben zu genau ansehen.

Sie betatschten ihn weiter, rieben sich an ihm, als könnten sie es nicht erwarten, mit ihm zur Sache zu kommen ... so wie man es ihnen beigebracht hatte. Sie streichelten ihn, machten gurrende Geräusche darüber, wie gut gebaut er war, wie stark und sexy sie ihn fanden.

Vorsichtig wandten sie ihre Blicke von ihm ab, damit sie weiter so tun konnten, als könnte sie etwas nicht abstoßen, was sie nicht sahen.

Er war gar nicht glücklich gewesen, als Dylan ihn auf seine Narben angesprochen hatte. An diese Art von ehrlicher Direktheit war er nicht gewöhnt. Genauso wenig wie an das echte Mitgefühl in ihrer Stimme, als sie ihn so vorsichtig gefragt hatte, wie es zu seinen Verletzungen gekommen war.

Sie hatte Rio unvorbereitet erwischt. Unter Dylans ehrlichem Interesse hatte er sich befangen gefühlt, und am liebsten wäre er im Erdboden versunken, um das Gefühl wieder loszuwerden.

Aber zumindest hatte sie ihn nicht mit dieser ärgerlichen Falschheit behandelt. Diese Frauen, so professionell dazu ausgebildet, zu bezaubern und zu verführen, konnten ihren Abscheu nicht vor ihm verbergen.

Sie zuckten und wanden sich vor ihm, und als die Minuten vergingen, begann sich der Raum mit ihnen zu drehen. Die grellen Farben des Clubs verwischten sich zu einer schwindelerregenden Schliere aus Rot, Gold und grellem Blau. Die Musik schwoll lauter an und fiel auf Rios Schädel wie ein Hammer, der auf zerbrechliches Glas niederfällt. Das Duftgemisch von Parfüm, Getränken und Sex brachte ihn zum Würgen.

Jetzt drehte sich unter ihm der Boden. Seine Schläfen wurden zermalmt, und der Wahnsinn erhob sich wie eine schwarze Welle, die ihn unter sich begraben würde, wenn er sich nicht bald wieder in den Griff bekam.

Er schloss die Augen, um etwas von dem Ansturm auf seine Sinne abzublocken. Die Dunkelheit dauerte nur einen Moment an, bevor sich aus dem Nebel seines angeschlagenen Verstandes ein Bild zu formen begann ...

Mitten im Sturm von Schmerz und Angst, der plötzlich um ihn tobte, sah er ein Gesicht.

Dylans Gesicht.

Ihre helle Haut mit den rötlichen Sommersprossen schien ihm so nahe, dass er sie berühren konnte. Ihre goldgrünen Augen waren halb geschlossen, aber auf ihn gerichtet, wunderschön und furchtlos. Als er sie hinter seinen geschlossenen Lidern betrachtete, lächelte sie und legte langsam den Kopf zur Seite. Ihr feuriges, seidiges Haar glitt ihr lose über die Schulter, so sanft wie eine Liebkosung.

Und dann sah Rio den scharlachroten Kuss einer Bisswunde unter ihrem Ohr.

Cristo, es war so real, sie so zu sehen. Sein Zahnfleisch schmerzte, die Spitzen seiner Fangzähne drückten spitz gegen seine Zunge. Durst brandete in ihm auf. Fast konnte er die Süße von Wacholder und Honig des Blutes riechen, das da aus ihren Wunden perlte.

Das war es, woran er erkannte, dass es nur eine Wahnvorstellung war - weil er ihren Geschmack nie kennenlernen würde.

Dylan Alexander war eine Stammesgefährtin, und das bedeutete, dass von ihr zu trinken nicht in Frage kam. Ein einziger kleiner Schluck ihres Blutes würde eine Verbindung schaffen, die nur der Tod lösen konnte. Rio hatte all das schon einmal durchgemacht, und es hatte ihn fast umgebracht.

Nie wieder.

Rio knurrte, als die Tänzerin auf seinem Schoß beschloss, dass es an der Zeit war, zur Sache zu kommen. Als er seine Augen öffnete, murmelte sie etwas Obszönes, pflanzte ihre Hände auf seine Oberschenkel und spreizte sie weit. Sie leckte sich die Lippen und ging vor ihm auf die Knie. Als sie sich daranmachte, den Reißverschluss seiner Hose zu öffnen, war es nicht die Lust, die seine Venen zum Schmelzen brachte, sondern die heiße Wut.

Sein Kopf dröhnte, sein Mund fühlte sich staubtrocken an.

Scheiße. Er würde die Kontrolle über sich verlieren, wenn er noch länger blieb.

Er musste schleunigst raus hier.

„Aufstehen“, knurrte er. „Runter von mir, alle drei.“

Sie krabbelte hastig zurück, als wäre er ein wildes Tier, das sie gerade gereizt hatten. Eine von ihnen versuchte, mutig zu sein.

„Möchtest du vielleicht lieber was anderes, Baby? Es ist okay. Sag uns, was du möchtest.“

„Nichts, das ihr habt“, sagte er knapp und drehte beim Aufstehen absichtlich den Kopf so, dass sie einen direkten Blick auf seine entstellte linke Gesichtshälfte werfen mussten.

Alles andere als aufrecht auf den Füßen stolperte er aus der VIP-Lounge und aus dem wummernden, moschusgeschwängerten Club. Er fand den ruhigen Hintereingang, wo er und Reichen hereingekommen waren, und drängte sich an den Türstehern vorbei, die klug genug waren, ihm auszuweichen, als sie ihn kommen sahen.

Die Straße draußen war dunkel, die Luft der Sommernacht kühl auf seiner erhitzten Haut; er trank sie durch den Mund, atmete sie tief ein, im Versuch, den Aufruhr in seinem Kopf zu beruhigen. Als es nichts nützte, stieß er einen Fluch aus.

Sein Sehvermögen war hier draußen in der Dunkelheit schärfer, aber es war mehr als seine übliche gute Nachtsicht, die jetzt dafür sorgte, dass alle Kanten schärfer hervortraten. Seine Pupillen waren vor Wut und Begierde zu schmalen Schlitzen verengt, das bernsteingelbe Glühen seiner transformierten Iriskreise warf einen schwachen Lichtschein auf den Asphalt unter seinen Füßen. Seine Schritte waren unregelmäßig, und das Hinken, das er fast schon überwunden hatte, kroch wieder in seinen Gang zurück.

Seine Fänge füllten seinen Mund aus. Ein Blick auf die Glyphen auf seinem Unterarm genügte, um zu wissen, dass er in schlechter Verfassung war.

Verdammt. Er hätte sich die Vene einer der Frauen im Club nehmen sollen. Er hätte schon vor Stunden Nahrung zu sich nehmen sollen, und jetzt wurde die Situation hier wirklich heikel.

Den Kopf gesenkt, die Fäuste tief in die Hosentaschen vergraben, begann Rio einen schnellen und alles andere als anmutigen Sprint. Er dachte daran, sich einen der städtischen Parks zu suchen. Die Obdachlosen waren den Kreaturen der Nacht wie ihm leichte Beute.

Aber als er in eine Seitenstraße einbog, die von der Hauptstraße abzweigte, sah er dort an der Straßenecke eine junge Punkerin stehen, die an einer Zigarette zog. Sie stand an ein Klinkergebäude gelehnt und beschäftigte sich mit ihren Fingernägeln, während sie eine Rauchwolke ausstieß.

Wenn ihre schwarzen Stiefel mit den Plateauabsätzen und ihr enger Minirock sie nicht verrieten, dann tat es das röhrenartige Oberteil, das über ihren riesigen Brüsten der Schwerkraft trotzte. Diese Billigvariante dessen, was Rio eben verschmäht hatte, sah auf und entdeckte ihn, wie er sie ansah.

„Ich hab Pause, Mann ey“, schnauzte sie und wandte sich wieder ihrer Nagelpflege zu.

Unbeirrt kam er weiter auf sie zu, tauchte wie ein Geist aus den Schatten auf.

Sie schnaubte angenervt. „Ick sage dir, ick hab Feierabend, wa?

Nüscht mehr mit Ficken.“

„Das will ich auch nicht von dir.“

„Ach wat“, meinte sie höhnisch. „Na, dann vapiss dir, Alta...“

Rio stürzte sich so schnell auf sie, dass sie nicht einmal mehr Zeit hatte zu schreien. Im Bruchteil einer Sekunde überwand er die zehn Meter Entfernung zwischen ihnen und drehte die Frau herum, sodass sie die Ziegelmauer ansah. Ihr dunkles Haar war kurz, somit hatte er ungehinderten Zugriff auf ihren Hals. Rio biss zu wie eine Viper, grub seine Fänge tief in nachgiebiges Fleisch und nahm einen harten Zug aus ihrer Vene.

Sie wehrte sich nur ganz am Anfang, zuckte unter dem ersten Schock. Aber dann wurde sie schlaff, als sein Biss sich länger hinzog, und der Schmerz wurde zu Lust. Rio trank schnell, schluckte in großen Zügen die Nahrung, die sein Körper so dringend brauchte. Er leckte über die Wunde und verschloss den Biss mit seiner Zunge. Schon in wenigen Minuten würde dort nichts mehr zu sehen sein, und was ihre Erinnerung anging - Rio griff um ihren Kopf herum und legte ihr die Hand über die Augen.

Es dauerte nur eine Sekunde, um die letzten paar Minuten aus ihrem Kurzzeitgedächtnis zu löschen. Aber im selben Moment kam ein Mann um die Hausecke und sah sie beieinander stehen.

„He! Was treibt ihr da?“

Der Mann war muskulös und kahlköpfig und wirkte alles andere als erfreut. Er wischte sich die Hände an einer fleckigen Kneipenschürze ab und bellte der Nutte etwas auf Deutsch zu - einen strengen Befehl, dem sie unverzüglich Folge leistete. Aber offenbar war sie dem Kerl doch nicht schnell genug. Als sie davonhuschte, machte er einen Satz auf sie zu und rammte ihr die Faust gegen die Schläfe. Sie wimmerte vor Schmerz und rannte um die Hausecke davon. Doch nun wollte Mr. Macho sich offenbar Rio vorknöpfen.

„Tu dir selber einen Gefallen und verschwinde“, knurrte Rio in einer Stimme, die nicht mehr menschlich klang. „Das hat nichts mit dir zu tun.“

Mr. Macho schüttelte seinen fleischigen Kopf. „Sex mit Uta hat immer mit mir zu tun. Bezahlt wird bei mir.“

„Willst du abkassieren? Versuch's nur“, sagte Rio leise. Jeder andere mit nur fünf Pfennig Grips hätte es als die Warnung verstanden, als die es gemeint war.

Aber nicht dieser Kerl. Er griff hinter sich und zog von irgendwo auf seinem Rücken ein Messer. Das war ein tödlicher Fehler. Rio sah die Gefahr kommen, und er war immer noch zu wütend, um es dabei bewenden zu lassen. Als der Zuhälter einen Satz nach vorne machte, wie um Rio das Messer in die Rippen zu rammen, sprang Rio ihn an.

Er warf den Mann auf den Asphalt, die Hände um seinen breiten Hals geschlossen. Ein hektischer Puls hämmerte gegen seine Handfläche, Pulsschlag auf Pulsschlag warmes Blut rauschte hinter der rauen Haut.

Aus der Ferne registrierte Rio den Herzschlag des Mannes, aber sein Verstand war nicht mehr sein eigener. Nicht mehr. Sein Bluthunger war für eine Weile gestillt, aber nun hatte die Wut ihn fest in ihren Klauen. Der Druck auf seinen Verstand, auf seinen Willen war gnadenlos und beschwor die Dunkelheit herauf, die er am meisten fürchtete.

Maldecido.

Monstruo.

Er spürte, wie er in diesen Strudel des Vergessens hinabsank...

Die Beschimpfungen, die man ihm als kleinem Jungen nachgeschrien hatte, zogen in seinen Ohren auf wie ein wütender Sturm. Er erinnerte sich an den dunklen Wald und den Geruch von frischem Blut auf der nackten Erde. Die Hütte, in der seine Mutter vor seinen eigenen Augen getötet worden war...

Als die Dunkelheit ihn einhüllte, war er wieder dieser verwilderte Findling, der er vor so langer Zeit in Spanien gewesen war. Ein verwirrtes und verängstigtes Kind, ohne Zuhause, ohne Familie und ohne seinesgleichen, der ihm zeigte, was er wirklich war und wie er damit umgehen konnte.

Comedor de la sangre.

Mit einem Aufbrüllen beugte er sich über sein zitterndes Opfer und schlug die Zähne in seinen fleischigen Hals. Jetzt tobte Rio, nicht vor Hunger, sondern vor Wut und einer alten Qual, die ihn sich fühlen ließ wie ein Monster. Wie ein Verfluchter. Ein schrecklicher, schreckenerregender Blutfresser.

Manos del diablo.

Diese Teufelspranken waren nicht mehr seine eigenen. Der Blackout brandete heran und überflutete ihn. Rio konnte die Straße, die vor ihm lag, nicht mehr sehen. Sein Verstand und ein letzter Rest von Selbstbeherrschung brannten durch wie Sicherungen. Er konnte kaum mehr denken. Aber er registrierte den Augenblick, als das Herz des Mannes unter seinen Fingern still wurde.

Als ihn die Dunkelheit in ihre Tiefen hinabzog, wusste er, dass er getötet hatte.

 

Ein dumpfer Schlag im Nebenzimmer weckte Dylan aus einem unruhigen Schlaf. Sie setzte sich auf, hellwach. Nebenan waren nun weitere Geräusche zu hören, tiefes Stöhnen und stolpernde Schritte von schweren Füßen, als hätte jemand oder etwas Riesiges unsagbare Schmerzen.

In der benachbarten Suite wohnte Rio. Das hatte er früher am Abend gesagt, als er mit einem leichten Abendessen zurückgekommen war und ihr ihren Rucksack mit ihren Kleidern wiedergebracht hatte. Er hatte ihr gesagt, dass sie sich für die Nacht herrichten und es sich bequem machen sollte, und sie gewarnt, dass er direkt auf der anderen Seite der Wand war, immer nur ein paar Sekunden von ihr entfernt.

Womit er nicht gerade zu ihrem Wohlbefinden beigetragen hatte.

Trotz seiner Drohung hatte Dylan vermutet, dass er irgendwann ausgegangen war. Im benachbarten Raum war es einige Stunden lang ruhig gewesen, bis dann um vier Uhr morgens dieser Weckruf kam.

So viel zu Rios Behauptung, ein todbringendes Geschöpf der Nacht zu sein. Er war einfach nur ein Säufer. So wie sich das nebenan anhörte, hatte er in der Stadt ordentlich einen draufgemacht und nun Schwierigkeiten, sein Bett zu finden.

Dylan saß da, die Arme über der Brust verschränkt, und hörte ihm zu, wie er stöhnte, gegen ein schweres Möbel stieß und einen satten Fluch knurrte, als die Beine unter ihm nachgaben.

Wie oft war ihr Vater in diesem Zustand heimgekommen?

Himmel, zu oft, um darüber Buch führen zu können. Wenn er in der Bar gewesen war, kam er immer so sternhagelvoll heimgestolpert, dass ihre Mutter, Dylan und ihre beiden älteren Brüder ihn mit vereinten Kräften ins Bett zerren mussten, bevor er womöglich hinfiel und sich den Schädel brach. Sie hatte herzlich wenig Verständnis für Männer, die sich dermaßen von ihren Schwächen beherrschen ließen, aber sie musste zugeben, dass die Geräusche, die Rio jetzt von sich gab, anders klangen als die eines gewöhnlichen Betrunkenen.

Sie kletterte vom Bett und ging leise zu der Verbindungstür hinüber.

Ein Ohr gegen das kühle Holz gepresst, konnte sie seine flachen, keuchenden Atemzüge hören. Sie sah ihn fast vor sich, wie er auf dem Boden zusammengebrochen war und sich nicht bewegen konnte, was auch immer es war, das ihn gepackt hielt.

„Hallo?“, fragte sie leise. „Ähm, ... Rio, sind Sie das?“

Stille.

Sie zog sich unangenehm in die Länge.

„Alles in Ordnung da drüben?“

Sie legte die Hand auf den Türknauf, aber er drehte sich nicht.

Abgeschlossen, so wie die ganze Nacht schon.

„Soll ich jemanden rufen, der nach Ihnen schaut?“

„Gehen Sie wieder schlafen, Dylan.“

Die Stimme war nur ein tiefes Knurren - Rios Stimme, und doch ganz anders, als sie sie je gehört hatte.

„Gehen Sie von der Tür weg“, kam das seltsame Knurren. „Ich brauche keine Hilfe.“

Dylan runzelte die Stirn. „Das glaube ich Ihnen nicht. Sie klingen gar nicht gut.“

Wieder versuchte sie den Türknauf zu drehen. Es war ein altes Stück, vielleicht ließ er sich aufkriegen.

„Dylan. Gehen Sie von dieser gottverdammten Tür weg.“

„Warum?“

„Weil ich sie, wenn Sie noch eine Sekunde länger dort stehen, aufmachen werde.“ Er atmete hart aus, und als er wieder sprach, war seine Stimme ein heiseres Knurren. „Ich kann dich riechen, Dylan, und ich will ... dich schmecken. Ich will dich, und ich bin nicht klar genug im Kopf, um meine Hände von dir zu lassen, wenn ich dich jetzt sehe.“

Dylan schluckte. Sie sollte vor dem Mann auf der anderen Seite dieser Tür Angst haben. Und ja, ein Teil von ihr hatte Angst. Nicht wegen seiner lächerlichen Behauptung, ein Vampir zu sein. Nicht, weil er sie entführt und offenbar vorhatte, sie weiterhin gefangen zu halten, wenn auch in einem goldenen Käfig. Sie war erschrocken von der Ehrlichkeit dessen, was er da eben gesagt hatte - dass er sie begehrte.

Und auch wenn sie es sich eigentlich gar nicht eingestehen wollte, so brachte dieses Wissen tief in ihrem Inneren doch irgendetwas zum Brennen. Wie fühlte es sich wohl an, von Rio berührt zu werden?

Ihre Füße begannen, sich unter ihr zu bewegen, führten sie weg von der Tür. Zurück zur Realität, wie sie hoffte, denn was sie da eben gedacht hatte, war nicht nur unrealistisch, sondern schlichtweg dumm.

Sie tappte zum Bett zurück und kletterte hinein, saß mit angezogenen Knien da, die Arme fest um die Beine geschlungen.

Heute Nacht würde sie kein Auge mehr zu tun.

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